Gregor Schöllgen – Historiker

Makulatur

03.07.2023 
Am 3. Juli 1973, also heute vor 50 Jahren, trafen sich die Außenminister aller damals 33 europäischen Staaten – außer Albanien - sowie der USA und Kanada in Helsinki. Mit dem Treffen, das vier Tage dauerte, wurde die erste Phase der sogenannten Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) eröffnet. Die eigentliche Arbeit erledigten dann fast zwei Jahre lang Experten dieser Staaten in Genf. Am 1. August 1975 wurde die Schlussakte der KSZE durch die Staats- und Regierungschefs der insgesamt 35 Staaten in Helsinki unterzeichnet. Ich habe diese Entwicklung in einem Kapitel meines Buches Die Macht in der Mitte Europas nachgezeichnet.

Damals sah Europa völlig anders aus. Noch gab es die Sowjetunion, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und die DDR. Diese Staaten in ihren bestehenden Grenzen zu erhalten und zu stabilisieren, überhaupt die Unverletzlichkeit der durch den Zweiten Weltkrieg in Europa geschaffenen territorialen Verhältnisse festzuschreiben, war einer der Gründe, warum die Sowjets schon seit den Fünfzigerjahren auf eine solche Konferenz drängten. Eben deshalb waren die Bundesrepublik, die nach wie vor die Wiedervereinigung mit der DDR auf ihrer Agenda hatte, und ihre westlichen Verbündeten lange Zeit gegen ein solches Projekt. Dass sie schließlich zustimmten, lag an der Bereitschaft der Sowjets und ihrer Verbündeten, die in der Schlussakte schließlich festgeschriebenen Prinzipien – das Selbstbestimmungsrecht der Völker sowie die Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten –, also die westlichen Bedingungen zu akzeptieren.

Jahre später hat der Journalist Peter Bender, einer der besten Kenner dieser Themen, die Entwicklung so auf den Punkt gebracht: „Der Osten wollte die Konferenz, der Westen stellte Bedingungen. Der Osten musste die Bedingungen akzeptieren, aber nachdem er sie akzeptiert hatte, musste der Westen zu einer Konferenz gehen, die er ursprünglich gar nicht wollte. Am Ende waren beide nicht mehr ganz Herren ihrer Entschlüsse, beide übersahen nicht mehr völlig, worauf sie sich einließen.“

Die KSZE gibt es immer noch – wenn auch seit 1995 als Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Allerdings fehlt dem Gebäude das Fundament. Nicht nur hat die Zahl der Teilnehmerstaaten – vor allem infolge der Implosion der Sowjetunion im Jahr 1991 – von 35 auf heute 57 zugelegt.

Sondern mit der Annexion der Krim und dem Angriff auf die Ukraine durch Russland, die Rechtsnachfolgerin der Sowjetunion, ist auch eine der tragenden Säulen des Unternehmens, nämlich die Verpflichtung zur Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen in Europa, endgültig in sich zusammengebrochen. Man kann es auch so sagen: Mit diesen Angriffen hat die russische Führung endgültig das Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen makuliert, das die Sowjets ein halbes Jahrhundert zuvor mit der KSZE-Schlussakte unbedingt schwarz auf weiß fixiert wissen wollten.

Dass die OSZE keine Möglichkeit sah und sieht, die russischen Übergriffe nennenswert zu sanktionieren, aufzuhalten oder gar zu revidieren, bestätigt den Befund, dass diese Konferenz ein Instrument für das Management des Kalten Krieges gewesen ist. Dieses Merkmal teilt sie mit anderen Organisationen wie der UNO, der NATO, in gewisser Weise auch der EU. Sie alle wurden in der Zeit des Kalten Krieges, also unter den damals geltenden internationalen Rahmenbedingungen, geschaffen. Keine von ihnen wurde nach seinem Ende den neuen Gegebenheiten angepasst – von der serienweisen Aufnahme immer neuer Mitglieder abgesehen.

Dass diese Gemeinschaften heute allesamt als weltpolitisch gestaltende Kräfte ausfallen, ist kein Zufall; dass der Zerfallsprozess der NATO durch den Angriff Russlands auf die Ukraine – also, wenn man so will, durch einen punktuellen Rückfall in die Zeit des Kalten Krieges – kurzzeitig angehalten worden ist, spricht für sich.

Sollte die Staatengemeinschaft, so es sie noch gibt, nicht bald die Kraft finden, sich grundlegend neu zu organisieren, sehen wir sehr finsteren Zeiten entgegen. Denn dann sind nicht nur die epochengebundenen politischen und militärische Regeln Makulatur, sondern auch die über ihre Zeit hinausweisenden Prinzipien.