Gregor Schöllgen – Historiker

Debatten, Fronten und ein Rückzug

09.06.2019 
2.102 Seiten umfassen die gerade erschienen beiden Bänder der Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland (AAPD) für das Jahr 1988. Insgesamt 383 Dokumente aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes und aus anderen Beständen, darunter die Papiere des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl, haben Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching und ich ausgewählt.

Von Michael Ploetz, Mathias Peter und Jens Jost Hofmann sorgfältig kommentiert, vermitteln sie ein facettenreiches Bild des Jahres vor dem großen Umbruch.

Dass etwas in der Luft lag, ahnte man, aber dass am Ende des folgenden Jahres die Mauer fallen würde, kam niemandem in den Sinn, im Gegenteil: Der Besuch, den der Vorsitzende des Staatsrats der DDR Erich Honecker im Januar 1988 Frankreich abstattete, deutete eher darauf hin, dass die internationale Anerkennung der DDR zügig voranschritt.

Das sah man offenbar auch in der Bundesrepublik so. Anfang Dezember kam es in der Bundestagsdebatte über die „Lage der Nation im geteilten Deutschland“ erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik zu einem offenen Streit über das Ziel der Wiedervereinigung.

Auf der anderen Seite nahmen die Erosions- und Zerfallserscheinungen der Sowjetunion und ihrer Verbündeten erkennbar zu. Anfang September wurde in Ungarn das „demokratische Forum“ gegründet; wenig später kam es in den baltischen Republiken der Sowjetunion zur Bildung von Volksfronten.

Und dann war da noch der sowjetische Truppenabzug aus Afghanistan, der nach fast zehnjährigem Krieg Mitte Mai 1988 begann. Heute wissen wir, dass diese Kapitulation ein Fanal gewesen ist. Liest man die Dokumente der AAPD 1988 heute im Abstand von 30 Jahre, wird deutlich, wie schwach die Sowjetunion damals tatsächlich war.