Gregor Schöllgen – Historiker

Tor auf

01.10.2019 
70 Jahre ist es her, dass Mao Tse-tung, der Führer der chinesischen Kommunisten, am 1. Oktober 1949 auf dem Tor des Himmlischen Friedens die Volksrepublik China proklamierte. Zu diesem Zeitpunkt lag ein mehr als zwanzigjähriger Bürgerkrieg hinter dem Land.

Er begann 1927 mit der Erosion des Zweckbündnisses zwischen den chinesischen Kommunisten und den von Chiang Kai-shek geführten Nationalchinesen. Und er endete 1949 mit dem Rückzug Chiang Kai-sheks, seiner Getreuen, des Parlaments und der Staatskasse nach Taiwan.

Wer in China gehofft hatte, mit dem Ende des Bürgerkrieges und dem Rückzug der Japaner, die von 1937 bis 1945, also eingebettet in den Bürgerkrieg einen brutalen Feldzug in China und gegen die Chinesen geführt hatten, sei die Zeit des Grauens vorbei, wurde eines anderen belehrt.

Denn mit der Machtübernahme öffnete Mao Tse-tung im Herbst 1949 das Tor zu einem Krieg gegen das eigene Volk, der alles in den Schatten stellte, was das Land in der jüngeren Geschichte erlebt hatte.

Da sich Mao wie andere seines Schlages zeitlebens von Gegnern und Saboteuren umstellt sah, machte er sich an deren Ausschaltung. Alleine bis Ende 1952 dürften 2 Millionen Chinesen hingerichtet worden sein. Den eigentlichen Vernichtungsfeldzug gegen sein Volk, denn das war der „Große Sprung nach vorn“, aber begann Mao Tse-tung im Frühjahr 1958. Der irrwitzige Versuch, das Land der Bauern binnen weniger Jahre zu einer der führenden Industrienationen zu formen, mündete in die Hungersnot der drei „bitteren Jahre“ und kostete bis 1963 mindestens 40 Millionen Chinesen das Leben.

Da dieser Feldzug Maos Position gefährlich geschwächt hatte, holten er und seine radikalen Gefährten, darunter seine Frau Jiang Qing, seit dem Mai 1966 zum Schlag gegen ihre tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner aus. Im Grunde endete diese „Große Proletarische Kulturrevolution“, der wohl mehr als 2 Millionen zum Opfer fielen, von den Demütigungen, Denunziationen und Misshandlungen gar nicht zu reden, erst mit Maos Tod am 9. September 1976.

Mich fasziniert diese Geschichte auch deshalb, weil sie eine Schlüsselfrage transportiert: Wie ist es möglich, dass ein Einzelner einem Land, einem Kontinent und so gesehen auch der Welt jahrzehntelang seinen Stempel aufdrücken kann? Immerhin war Mao Tse-tung seit 1935 endgültig die führende Figur der chinesischen Kommunisten. Welche Rolle der Mann und sein Land in der Politik der geteilten Welt gespielt haben, wurde mir so richtig erst bewusst, als ich deren Geschichte aufschrieb:Geschichte der Weltpolitik von Hitler bis Gorbatschow 1941 – 1991.

Da wurde mir auch deutlich, welche Verdienste Mao Tse-tung jenseits des großen Vergehens an seinem Volk zukamen: Er war maßgeblich am Sieg über die brutalen japanischen Invasoren beteiligt, bot erfolgreich dem überlegenen sowjetischen Konkurrenten die Stirn und öffnete in seinen letzten Jahren das Tor zum Westen. Mit dem für die Welt völlig überraschenden Empfang des amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in Peking leitete Mao Tse-tung im Februar 1972 eine Entwicklung ein, die heute wie kaum eine zweite die Weltpolitik bestimmt.