Gregor Schöllgen – Historiker

Drunter und drüber

23.01.2020 
Nachdem sich Deutschland und die Deutschen monatelang als friedliche Revolutionäre gefeiert und dabei den Rest der Welt aus dem Auge verloren haben, ist es jetzt an der Zeit die weltpolitischen Rahmenbedingungen unter die Lupe zu nehmen.

Die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland für 1989, die gerade erschienen sind, machen das möglich. Die 437 Dokumente, von Hélène Miard-Delacroix, Andreas Wirsching und mir herausgegeben und von Dorothee Pautsch, Daniela Taschler, Tim Szatkowski und Christoph Johannes Franzen in gewohnt souveräner Weise bearbeitet, zeigen, wie sehr es in diesem Jahr in der Welt zuging.

Während in der Bundesrepublik und der DDR noch niemand ernsthaft an einen Fall der Mauer oder gar an eine Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten dachte, begannen in Polen die Gespräche am Runden Tisch, machte sich Ungarn an den Abbau der Grenzbefestigungen zu Österreich, gab der Warschauer Pakt die Breschnew-Doktrin auf und der Kreml die Existenz sämtlicher Dokumente des Hitler-Stalin Paktes zu.
Aus Afghanistan rückte die letzte sowjetische Einheit ab, in Peking rückte die Armee gegen eine Großdemonstration vor und in Bonn war Mitte Juni Michael Gorbatschow zu Gast.

Dass am 9. November die Mauer fallen würde, ahnte nicht einmal Kanzler Helmut Kohl, der sich zu diesem Zeitpunkt in Warschau aufhielt. Dass er das Heft des Handelns in die Hand nahm, und die deutsche Außenpolitik in den kommenden Wochen und Monaten souverän durch das Drunter und Drüber der Weltpolitik steuerte, bleibt sein großes Verdienst. Die Akten zur Auswärtigen Politik der Bundesrepublik Deutschland für 1990, das letzte Jahr meiner Herausgebertätigkeit, werden das eindrucksvoll dokumentieren.