Gregor Schöllgen – Historiker

Rücksichtslos

02.05.2021 
Es gibt immer noch Europäer, die glauben, dass mit Joe Biden ein neues Kapitel amerikanischer Außenpolitik aufgeschlagen worden sei. Richtig ist, dass der 46. Präsident der Vereinigten Staaten berechenbarer ist als sein Vorgänger. Auch pflegt er einen anderen kommunikativen Stil als dieser. In der Sache aber führt Joe Biden in vieler Hinsicht die Politik seiner Vorgänger, auch Donald Trumps, fort.

Deutlich wird das jetzt beim Rückzug aus Afghanistan. Als Biden Mitte April einseitig den Abzug der amerikanischen Truppen bis zum 11. September - dem 20. Jahrestag der Terroranschläge in den USA - ankündigen ließ, war das auch ein schwerwiegender Affront gegen Amerikas NATO-Partner, darunter die Bundesrepublik.

Denn zum einen hätte die Bundeswehr nach dem 11. September 2001 nie und nimmer in Afghanistan Flagge gezeigt, wenn Deutschland nicht von den USA aufgefordert worden wäre, sie im Kampf gegen den Terror zu unterstützen. Zum anderen sind die deutschen Soldaten zwingend auf die amerikanische Unterstützung vor Ort angewiesen. Bidens Befehl zum Rückzug zwingt Deutschland seit Anfang Mai, Afghanistan fluchtartig zu räumen, dabei beträchtliche Teile der Ausrüstung zurückzulassen und einen nicht zu unterschätzenden Gesichtsverlust in Kauf zu nehmen.

Mit dieser Aktion schreibt Joe Biden die Afghanistanpolitik seiner Vorgänger Barack Obama und Donald Trump konsequent fort. Seit Obama im Mai 2014 – schon damals ohne jede Vorankündigung oder Konsultation der Verbündeten – wiederholt einen Truppenabzug angekündigt und wieder rückgängig gemacht hat, geht das so. Und nicht nur in Afghanistan.

Für die Verbündeten ist die amerikanische Außen- und Sicherheitspolitik eine Zumutung. Ausschließlich an den eigenen Interessen orientiert, operiert Washington ohne Rücksicht auf Verluste. Das NATO-Bündnis, das einmal eines der erfolgreichsten der Geschichte gewesen ist, existiert faktisch nicht mehr. Deshalb ist es höchste Zeit, die Beziehungen zu Amerika auf ein neues Fundament zu stellen. Wie das aussehen muss, haben Gerhard Schröder und ich in unserem neuen Buch analysiert.