Gregor Schöllgen – Historiker

Angst vor der Macht ...

20.02.2023 
… heißt ein Buch, das heute vor 30 Jahren erschien. Thema waren Die Deutschen und ihre Außenpolitik. Das Buch wurde ungewöhnlich breit rezipiert und hatte unter anderem zur Folge, dass ich durch eine Reihe von Medien und Institutionen wie zum Beispiel der NATO eingeladen wurde, meine Position vorzustellen.

Ein Anstoß, das Buch zu schreiben, kam von jungen Diplomaten aus 14 Staaten Mittel-, Südost- und Osteuropas, darunter auch Russlands und der Ukraine, die seit 1992 vom Auswärtigen Amt ausgebildet wurden. Schon 1993 wurde der Kreis der Kursteilnehmer deutlich erweitert und namentlich auf Diplomaten aus afrikanischen und asiatischen Staaten ausgedehnt. Ich habe dort 20 Jahre lang das historische Seminar geleitet. Die sehr unterschiedlichen Perspektiven der Teilnehmer auf die weltpolitische Lage waren auch eine ständige Aufforderung, mein eigenes Weltbild zu prüfen.

Wer in diesen Tagen noch einmal die weltpolitische Lage zu Beginn der frühen neunziger Jahre noch einmal unter die Lupe nimmt, stellt fest: Sie sah nicht besser aus als heute. Im Gegenteil. Immerhin standen unter anderem die Auflösung der Sowjetunion und ihres Machtbereichs, die Zerlegung Jugoslawiens und der Zweite Golfkrieg mitsamt ihren vielfältigen Folgen und Begleiterscheinungen auf der Tagesordnung. Gar nicht zu reden von der Serie schwerer Verwerfungen in Afrika und Asien.

Dass es gelungen ist, ein direktes Übergreifen dieser Krisen, Kriege und Konflikte auf Mittel- und Westeuropa zu verhindern, kann man als beachtlichen Erfolg des jeweiligen situationsbezogenen Krisenmanagements und damit als ermutigendes Signal lesen. Das ist die gute Nachricht. Es gibt auch eine schlechte.

Offensichtlich haben wir es seither nicht verstanden, Strategien für die damals klar erkennbaren Herausforderungen der Zukunft zu formulieren. In der Rückschau muss man das als kollektives Versagen werten. Denn realisierbare Vorschläge gab es.

Tatsächlich konnte kaum eines der seinerzeit aufgeworfenen Probleme einer dauerhaft tragfähigen Lösung zugeführt werden. Vor allem ist es nicht gelungen, den Hauptursachen von Flucht und Migration, also dem systematischen Völkermord, der massenhaften Misshandlung und Vertreibung oder dem millionenfachen Hungertod mit angemessenen politischen, wirtschaftlichen, humanitären oder gegebenenfalls auch kollektiven militärischen Mitten, also wirkungsvoll zu begegnen. Darin habe ich schon vor 30 Jahren die größte Herausforderung und die drängendste Aufgabe auch der deutschen Außenpolitik gesehen.


aktualisiert am 21. Februar 2023