Gregor Schöllgen – Historiker

Wasser als Waffe

29.04.2025 
Erdbebenfluten, sogenannte Tsunamis, können verheerende Wirkungen entfalten. Flüsse auch. Wenn sie über ihre Ufer treten. Oder wenn sie politische Beben verursachen. Und auf ein solches deutet jetzt eine beiläufige Meldung hin. Am 24. April wurde bekannt, dass Indien das Abkommen mit Pakistan über die gemeinsame Nutzung des Indus und seiner Nebenflüsse ausgesetzt hat.
 
Das ist auch deshalb eine brisante Nachricht, weil der Indus lange als Beispiel für die verbindende Wirkung stand, die Flüsse eben auch haben können. Im Falle der Nachbarn Indien und Pakistan trug sie beinahe sechseinhalb Jahrzehnte. Das ist erstaunlich. Denn als die Briten 1947 die Kronkolonie Indien, das Juwel ihres Weltreiches, überstürzt in die Unabhängigkeit entließen und es bei dieser Gelegenheit in Indien, West- und Ostpakistan, das heutige Bangladesch, teilten, blieben viele Fragen offen. Auch die Frage nach der Nutzung der Wasserressourcen.
 
Vier Mal haben Indien und Pakistan seit der Unabhängigkeit gegeneinander Krieg geführt, zuletzt 1999. Die Konfliktursachen sind vielfältig. Zu ihnen gehört das Wasser des Indus, der in Tibet, also auf chinesischem Hoheitsgebiet entspringt, dann die zwischen Indien, Pakistan und China heftig umstrittene Kaschmirregion quert und zum größten Strom Pakistans wird. Gut Dreiviertel der landwirtschaftlichen Nutzfläche Pakistans sind von der Bewässerung und damit vor allem vom Wasser des Indus abhängig. Damit hält das Land beim Anteil der bewässerten Flächen weltweit und mit Abstand die Spitzenposition, gefolgt von Israel und China. Eine Beeinträchtigung der Wasserzufuhr durch den Indus ist für Pakistan nicht hinnehmbar.
 
Auch deshalb nahmen die beiden Hauptanrainer – im Übrigen auf Druck der Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, eine Organisation der Weltbank - schon 1954 Verhandlungen auf, verständigten sich im September 1960 vertraglich auf eine „zufriedenstellende Nutzung des Wassers des Indus-Flüsse-Systems“, und installierten eine „Permanente Indus Kommission“.     Es gibt gute Gründe, warum Indien und Pakistan, die inzwischen beide zu den Atommächten zählen, bislang daran festgehalten haben.
 
Allerdings bauen sich seit einiger Zeit an der Wasserfront neue, schwerwiegende Konflikte auf. In Indien hat eine Serie katastrophaler Dürren innerhalb weniger Jahre in Verbindung mit einem nicht minder katastrophalen Wassermanagement dazu geführt, dass man von heraufziehenden „Wasserkriegen“ spricht. Zunächst noch nicht zwischen Indien und dem einen oder anderen seiner Nachbarn, sondern zwischen einzelnen indischen Bundesstaaten wie Punjab und Haryana, der Kornkammer Indiens: 2016 kam es dort bei Kämpfen um Wasser zu Toten.
 
Eine solche Eskalation droht jetzt auch zwischen Indien und Pakistan. Auslöser ist die komplizierte Lage in der Kaschmirregion. Immer wieder werden hier mehr oder weniger heftige, auch militärische Zwischenfälle registriert.
 
So gesehen konnte man damit rechnen, dass der Terroranschlag auf Touristen im indisch verwalteten Teil Kaschmirs vom 23. April die Eskalationsschraube neuerlich in Bewegung setzt. Dazu gehören Scharmützel zwischen indischen und pakistanischen Einheiten, die Ausweisung aller Staatsbürger und der Schließung des Luftraums für Flugzeuge des jeweils anderen Landes oder auch eine Aussetzung des bilateralen Handels. Das ist bedenklich.
 
Dass Indien das Wasserabkommen von 1960 aussetzt, ist beunruhigend. Denn die Maßnahme wird von Pakistan als kriegerischer Akt eingestuft. Ohne das Wasser des Indus ist das Land aufgeschmissen. Menschen können auf vieles verzichten, aber ohne Wasser können sie nicht überleben. Welches hohe Konfliktpotential im Zugang oder Nichtzugang zu Wasser steckt, haben wir, die Bewohner der nördlichen Halbkugel, lange übersehen.
 
Wir kannten das Problem nicht aus eigener Erfahrung. Das hat sich geändert. Weil der Klimawandel auch uns mit dem Thema konfrontiert. Und weil wir mittelbar oder auch direkt die Folgen des Wassermangels auf der südlichen Halbkugel zu spüren bekommen. So dramatisch die Lage in anderen, auch näher gelegenen Konfliktregionen auch ist - den hochbrisanten Konflikt im Himalaja sollten wir keinesfalls aus den Augen verleren. Denn ein Krieg um Wasser wird nicht mit Wasser geführt.
 
Welche Dimensionen dieses komplexe Thema hat, wurde mir vor 30 Jahren bewusst, als ich meine Geschichte der Weltpolitik in der Zeit des Kalten Krieges schrieb.