Es war eine Meldung unter den vielen, welche die Berichterstattung unserer Tage dominieren. Daher fiel sie kaum auf. Zu Unrecht. Am 20. Juni 2025 empfing der türkische Präsident Recep Tayip ErdoÄŸan in Istanbul den armenischen Premierminister Nikol Paschinjan.
Das ist womöglich ein Lichtblick in der düsteren Geschichte der Armenier, zu der zuletzt - Mitte September 2023 beginnend - die Vertreibung von 120.000 Menschen aus Bergkarabach zählte. Das Gebiet liegt auf dem Territorium des Nachbarn Aserbaidschan, gehört auch zu diesem, wurde aber seit Jahrhunderten vor allem von Armeniern bewohnt.
Das traditionelle Siedlungsgebiet der christlichen Armenier waren der Osten des Osmanischen Reiches, der Vorläuferin der modernen Türkei, sowie die angrenzenden Gebiete insbesondere Russlands, und das heißt auch: Die Armenier lebten durchweg unter der Herrschaft anderer Völker. Das ging gut, bis das Osmanische Reich Mitte der Neunzigerjahre des 19. Jahrhundert mit ihrer Verfolgung, Vertreibung und schließlich physischen Vernichtung begannen.
In diesen beiden Jahrzehnten war das Osmanisch Reich auf allen möglichen Ebenen mit dem Deutschen Reich verbunden und während des Ersten Weltkrieges auch militärisch verbündet. Diese wechselvolle Beziehung habe ich in meinem Buch Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871-1914 dargestellt und analysiert. Das Buch erschien 1984, liegt seit 2000 in dritter Auflage und seit 2021 auch in einer türkischen Übersetzung vor.
Deutsche Diplomaten und damit auch die Regierenden in Berlin wussten von der Verfolgung, Vernichtung und dann auch der Deportation der Armenier in den Jahren 1894 bis 1896, 1909 und seit 1915. Das hielt den deutschen Kaiser Wilhelm II. nicht davon ab, 1898 und 1917 die Türkei zu besuchen und Sultan Adbul Hamid II. seine Aufwartung zu machen.
Dass die Armenier während des Ersten Weltkrieges systematisch vertrieben und vernichtet wurden, war spätestens seit 1916 aktenkundig, als der Theologe, Orientalist und Orientkenner Johannes Lepsius einen „Bericht über die Lage des Armenischen Volkes in der Türkei“ vorlegte und diesem Bericht 1919 unter dem Titel „Deutschland und Armenien 1914-1918“ eine Auswahl von Akten des Archivs des Auswärtigen Amtes folgen ließ.
Die breite Öffentlichkeit erfuhr von der Vertreibung und Vernichtung des armenischen Volkes allerdings erst durch den österreichischen Schriftsteller Franz Werfel. In seinem 1933 erschienenen, noch heute unbedingt lesenswerten historischen Roman Die Vierzig Tage des Musa Dagh schildert Werfel diesen Genozid eindringlich.
Bis in die jüngste Vergangenheit hinein stellte die Türkei den Völkermord in Aberde. Ob sich das jetzt ändert, wird man sehen. Nicht die Türkei steht unter Druck, sondern Armenien. Denn der Nachbar Aserbaidschan verfügt über reiche Gas- und Ölvorkommen, wird von der Türkei militärisch massiv unterstützt und vom Westen hofiert. Dass Aserbaidschan seit Jahren vom Clan der Aliews autoritär geführt wird, interessiert hier niemanden.
Dem trägt Armenien jetzt Rechnung. Zu den symbolträchtigen Gesten, die sein Premier Paschinjan bei der Reise in die Türkei im Gepäck mit sich führte, gehört die Konzentration auf das „reale Armenien“, also auf die Republik Armenien, und damit der Verzicht auf die „historischen“ Siedlungsgebiete in der Türkei. Dieser Verzicht schließt den Verzicht auf den Ararat ein. Der Ararat ist der höchste Berg der Türkei und galt den Armeniern als ihr „heiliger Berg“. Dessen Stelle nimmt im „realen“ Armenien der Aragaz ein.
Gut möglich, dass diese Anerkennung der harten Realität zu einem Ausgleich mit den Nachbarn führt. Anders sieht es im Innern des Landes aus, wo die Konzessionen des Premiers und seiner Leute auf zunehmenden Widerstand stoßen - insbesondere der Apostolischen Kirche, einem traditionellen Machtfaktor in Armenien. So wie es heute aussieht, hat das Leiden noch kein Ende.