
Aufmerksame Zeitgenossen wissen es schon lange: Die Anfang April 1949 gegründete NATO hat ihre besten Jahre hinter sich. Im Grunde ist sie seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihres Imperiums, also seit den ausgehenden Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts, ein Anachronismus. Denn die Transatlantische Allianz wurde nur für den einen und einzigen Zweck gegründet, sich gemeinsam vor den Sowjets und deren Militärorganisation, dem Warschauer Pakt, zu schützen. Gemessen an diesem Ziel ist die NATO eines der erfolgreichsten Bündnisse der neueren Geschichte.
verlor sie mit dem Untergang des Gegners auch ihren definierten Sinn und Zweck. So gesehen lag Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nicht falsch, als er das Bündnis im November 2019 als „hirntot“ bezeichnete. Jetzt bestätigt Jens Stoltenberg diesen Befund. Der Norweger, Jahrgang 1959 und wiederholt Ministerpräsident seines Landes, war von 2014 bis 2024 Generalsekretär der NATO. Gerade hat er unter dem Titel Auf meinem Posten. In Kriegszeiten an der Spitze der NATO seine Erinnerungen an diese Zeit vorgelegt.
Sie sind eine Bankrotterklärung, denn sie zeigen, wie es um das Bündnis bestellt ist. Besonders erhellend ist Stoltenbergs Bericht über den NATO-Gipfel im Juli 2018, auf dem es vor allem um die Verteidigungsausgaben der einzelnen Mitgliedsstaaten ging. Donald Trump, seit 2017 Präsident der USA, hatte schon während des Wahlkampfs deutlich gemacht, was er von der Zahlungsbereitschaft der Europäer hielt, nämlich nichts.
Im Sommer 2018 ließ Trump die Situation so weit eskalieren, dass der Generalsekretär „das Ende der NATO“ vor sich sah: „Sie funktionierte nicht mehr. Nicht notwendigerweise, weil die Allianz sich formal auflöste, sondern weil sie keine Bedeutung mehr hatte. Die NATO steht und fällt mit der Sicherheitsgarantie. Wenn ein amerikanischer Präsident sagt, er will andere Alliierte nicht länger verteidigen, und aus Protest ein Nato-Gipfeltreffen verlässt, dann sind der NATO-Vertrag und die Sicherheitsgarantie nichts mehr wert.“
Eine vorzeitige Abreise Trumps wurde dann zwar in letzter Minute verhindert, aber das Problem war damit natürlich nicht aus der Welt, im Gegenteil. Jetzt wussten auch diejenigen, die das bislang nicht wahrhaben wollten, an welchem seidenen Faden das Bündnis hing. Und die Gegner der NATO, allen voran der russische Präsident, konnten davon ausgehen, dass ihnen durch die Allianz keine ernstzunehmende Gefahr drohte – jedenfalls solange Russland keines ihrer Mitgliedsländer angriff.
An dieser Einschätzung der NATO durch den Kreml hat sich offenkundig auch seit Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine im Februar 2022 nichts geändert. Zwar sind die inzwischen 31 europäischen Mitgliedsstaaten vor diesem Hintergrund auch deshalb wieder näher zusammengerückt, weil Russland zusehends die Funktion der untergegangenen Sowjetunion zu übernehmen scheint. Auch haben sie ihre militärischen Aufwendungen deutlich intensiviert.
Aber an der einseitigen Abhängigkeit von der transatlantischenGarantie hat sich nichts geändert: Wenn es daraud ankommt, entscheidet der amerikanische Präsident über die Sicherheit Europa. Und nur er. Auch dieser Befund ist ein Bankrotterklärung, denn er dokumentiert, dass die Europäer buchstäblich nichts aus ihrer jüngeren Geschichte gelernt haben: Die Europaarmee als eigenständige Säule der NATO, die jahrzehntelang im Gespräch gewesen ist, steht inzwischen nicht einmal mehr auf dem Papier.