Gregor Schöllgen – Historiker

Geschichtlicher Verkehrsunfall

20.08.2018 
Das sind bewegte Zeiten. Vor allem in der Geschichte eines Staates, den es heute nicht mehr gibt, der aber bis zu seiner Selbstauflösung zum Jahresende 1992 in der europäischen Geschichte eine bedeutende Rolle gespielt hat.

Vor 100 Jahren, am 28. Oktober 1918, erblickte die Tschechoslowakei das Licht der Welt. Vor 80 Jahren wurde sie, am 1. Oktober 1938 mit dem Einmarsch deutscher Truppen in die sudentendeutschen Gebiete beginnend, zerschlagen. Vor 70 Jahren, am 25. Februar 1948, übernahmen die Kommunisten die Herrschaft in dem inzwischen wieder hergestellten Staat. Und vor 50 Jahren zwang der Warschauer Pakte, am 20. August 1968 mit dem Einmarsch seiner Armeen beginnend, die Tschechoslowakei zurück auf die sowjetische Linie.

In diesen Tagen wird zu Recht an die gewaltsame Niederschlagung der inneren Reformbewegung in der Tschechoslowakei erinnert, mit der das Ende des sogenannten Prager Frühlings begann.

Das ist aber nur ein Teil der Geschichte. Zu ihr gehört auch, dass der Westen, auf dessen Werte sich die Reformer in Prag beriefen, stillhielt und die Spielregeln der Sowjets in dieser Phase des Kalten Krieges akzeptierte. In Washington und London, Paris und Bonn wollte man das zarte Pflänzchen der Entspannungspolitik zwischen Ost und West nicht zertreten.

Das war nachvollziehbar. Aber dass der Westen die sowjetische Intervention in Prag – in den Worten des französischen Außenministers Michel Debré – als „geschichtlichen Verkehrsunfall“ abtat und zur Tagesordnung überging, gibt auch heute noch zu denken. Interventionen dieser Art waren damals an der Tagesordnung. Warum das so sein konnte, habe ich im Kapitel "Intervention" meines letzten Buches "Krieg. Hundert Jahre Weltgeschichte" untersucht.