Gregor Schöllgen – Historiker

Geschichte als Kapital

13.03.2023 
Niemand ist ohne Geschichte. Geschichte ist komplex. Geschichte ist die Summe vielschichtiger Vorkommnisse und vielfältiger Wahrnehmungen. Wer um seine Geschichte weiß, ist im Vorteil. Ganz gleich, was in ihr steckt. Nichts ist misslicher, als unvorbereitet von einer unbekannten Vergangenheit oder von einer falsch überlieferten beziehungsweise erinnerten Geschichte eingeholt zu werden.

Dem beugen Historiker vor. Wir machen Geschichte von Individuen und Gemeinschaften sichtbar und so für die Herausforderungen der Gegenwart wie der Zukunft nutzbar. Wir gehen der Geschichte auf den Grund und geben ihr ein Gesicht. Wir zeigen, was in Geschichte steckt. Wir kapitalisieren Geschichte.

Um das auch institutionell und auf breiter Basis tun zu können, habe ich 2006, also während meiner Zeit als Lehrer und Forscher an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, das Zentrum für Angewandte Geschichte (ZAG) ins Leben gerufen. Es ging aus drei sogenannten Forschungsstellen des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Geschichte II hervor: „Internationale Beziehungen“, „Ausstellungen und Dokumentationen“ sowie „Moderne Unternehmensgeschichte“. Die Universität stellte die Infrastruktur einschließlich des Geschäftsführers des ZAG, den laufenden Betrieb, insbesondere die Stellen der Wissenschaftlichen Mitarbeiter, finanzierten wir durch eingeworbene Mittel, insbesondere aus der Privatwirtschaft.

Nun konnten und wollten wir das Rad nicht neu erfinden. Das Einwerben von Drittmitteln ist Teil des gesetzlichen Auftrags der Universitäten und ihrer Mitarbeiter. Auch deshalb sind drittmittelfinanzierte Auftragsarbeiten seit geraumer Zeit feste Posten auch der Etats historischer und anderer geisteswissenschaftlicher Institute. Wer eine Reise durch die einschlägigen Websites unternimmt, stellt bald fest, dass aus öffentlichen Haushalten finanzierte Historikerkommissionen oder von Unternehmen projektfinanzierte Forscher das Profil entscheidend mitprägen. So gesehen klang und klingt manche Kritik aus diesen Ecken wenig überzeugend.

Was uns von den meisten anderen Einrichtungen unterschied, war zum einen das Themenspektrum, das wir mit unseren wissenschaftlichen und publizistischen Aktivitäten abdeckten, und zum anderen die nicht zweckgebundene Förderung unserer Forschung durch Spenden.

Wie sich das ZAG in der Forschungslandschaft darstellte, wie wir uns verstanden, wie wir arbeiteten, womit wir uns gerade beschäftigten, war auf der Website des ZAG oder auch in Veröffentlichungen nachlesbar. 2007 habe ich das Konzept in meinem Festvortrag zum Dies academicus der Universität öffentlich vorgestellt. Der Vortrag wurde anschließend durch die Universität veröffentlicht und wiederholt nachgedruckt, unter anderem 2008 in den vom Deutschen Hochschulverband herausgegebenen „Glanzlichtern der Wissenschaft“.

Mir war bewusst, dass ich mir mit diesem Konzept und seiner offensiven publizistischen Vermarktung nicht nur Freund machen würde. Aber es überrascht mich doch bis heute, dass meine Überlegungen zu diesem Thema offenbar nicht gelesen oder aber ignoriert werden. Dabei waren und sind sie auf meiner, also auf dieser Website jederzeit leicht abrufbar. Neugierigen, aber zeitgeplagten Interessenten empfehle ich meinen Artikel „Der Historiker wird zum Dienstleister“, der im Februar 2010 in der Welt erschien und bis heute nichts von seiner Aktualität verloren hat.

Denn nach wie vor gilt: Auftragsforschung ist notwendig. Und sie ist legitim. Ohne sie würden die Universitäten ihrem Forschungsauftrag heute nicht mehr nachkommen können. Das gilt für die Medizin, die Naturwissenschaften oder die Technischen Disziplinen ebenso wie für die Geisteswissenschaften. Dabei ist es gleichgültig, ob die Aufträge von öffentlichen Institutionen oder von privaten Auftraggebern kommen. Die Verantwortung für die inhaltliche Unabhängigkeit und sachliche Qualität einer Dienstleistung liegt ja nicht beim Auftraggeber, sondern immer beim Forscher und Autor. Dass der, schon um seinen Ruf nicht zu ramponieren, auf dieser Unabhängigkeit bestehen muss, liegt auf der Hand.

Vergleichbares gilt für Spenden. Ohne das beträchtliche Spendenaufkommen könnten viele öffentliche Institutionen, auch die Universitäten, ihren Aufträgen und Pflichten kaum in vollem Umfang nachkommen. Spenden sind das mit dem größten Maß an Unabhängigkeit verbundene Drittmittel. Denn der Spender kann keinen Einfluss auf die Verwendung der Gelder nehmen. Umgekehrt darf der Spendenempfänger, also in diesem Fall die Universität, schon aus Datenschutzgründen die Namen der Spender nicht nennen, sofern diese nicht ausdrücklich zustimmen. Man mag das für reformbedürftig halten – dazu neige auch ich -, aber so ist nun einmal die Rechtslage.

Alle zweckgebundenen Drittmittel und nicht zweckgebundenen Spenden, die durch das ZAG eingeworben wurden, flossen, dem geltenden Haushaltsrecht entsprechend, ausnahmslos in den bayerischen Staatshaushalt und wurden nach den Kriterien des staatlichen Haushaltsrechts ausgegeben und abgerechnet. Ein Restbetrag der eingeworbenen, nicht zweckgebundenen Mittel verblieb nach meinem Abschied von der Universität bei dieser.

Natürlich hatten wir nichts zu verbergen, im Gegenteil: Wir lebten davon, dass unsere Forschungen breit wahrgenommen wurden. Auch deshalb standen die Türen des ZAG offen. Besucher waren willkommen.

Als ich 2017 in den Ruhestand ging und damit auch das ZAG seine Arbeit beendete, haben wir sämtliche Unterlagen, selbstredend auch die der Buchhaltung, geschlossen an das Universitätsarchiv übergeben. Materialien, die uns für die Forschung anvertraut wurden, gingen an die einzelnen Auftraggeber zurück, sofern diese das wünschten. Das galt insbesondere für Archivgut.

Insgesamt haben wir für das ZAG gut 1,8 Millionen Euro an Drittmitteln und Spenden eingeworben, die zum überwiegenden Teil aus der privaten Wirtschaft kamen. Ich finde das eine starke Bilanz.

Das fanden bald nach der Gründung wohl auch andere. Wenn ich recht sehe, waren wir mit die Ersten, wenn nicht die Ersten, die das Epitheton „Angewandte Geschichte“ im Namen führten. Heute gibt es dutzende Einrichtungen mit dieser Bezeichnung und einem vergleichbaren Konzept. So falsch können wir also nicht gelegen haben.

Verwendet haben wir die eingeworbenen Mittel für die Finanzierung meiner zeitweiligen Lehrstuhlvertretung sowie insbesondere für die Gehälter der Wissenschaftlichen und Studentischen Mitarbeiter. Die meisten von ihnen wirkten etwa zur Hälfte ihrer Zeit an einem der Forschungsvorhaben mit und trieben im Übrigen die Arbeit an ihren Dissertationen voran. Mehr oder weniger alle, die bei uns gewesen sind, haben hernach ihren Weg gemacht: In der Wissenschaft oder der Wirtschaft, bei internationalen Organisationen wie der NATO oder in kommunalen Behörden wie der Stadt Nürnberg, in Agenturen – zum Beispiel im Bereich History Marketing – oder bei den Medien.

Die Projekte, die aus dieser intensiven gemeinsamen Arbeit zunächst der drei Forschungsstellen, dann des ZAG hervorgegangen sind, können sich nach wie vor sehen lassen: So die Konzepte für historische Museen oder Ausstellungen, darunter das Dokumentationszentrum auf dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände in Nürnberg; die konzeptionelle Beratung historischer Fernsehdokumentationen, die mit dem 2002 von RTL ausgestrahlten Vierteiler „Kanzler, Krisen, Koalitionen“ begann; die Mitwirkung an historischen Editionen wie der großen Berliner Willy-Brandt-Ausgabe, von der einige Bände in enger Kooperation mit dem ZAG entstanden; und natürlich eine Reihe von Büchern zu den Themen, die uns am ZAG beschäftigt haben.

Überdies konnten wir mit Spendengeldern wissenschaftliche Vorhaben Dritter fördern. So haben wir zum Beispiel die wegweisende Untersuchung „Zucht und Ordnung. Gewalt und Kinder in historischer Perspektive“ mit einem Druckkostenzuschuss unterstützt.

Ohne großzügige Spenden hätte schließlich unser letztes großes Projekt „Wissen in Bewegung“ kaum realisiert werden können. Das Buch, eine Geschichte der Friedrich-Alexander-Universität, erschien 2018 anlässlich des 275. Jahres ihrer Gründung und hat im Übrigen auch die Rolle von Spendern und Stiftern im universitären Raum zum Thema. In diesem Fall wurden sowohl die aufwendigen Recherchen durch die Wissenschaftlichen Mitarbeiter als auch die Druckkosten der deutsch- wie der englischsprachigen Ausgaben durch Spender beziehungsweise Stifter finanziert.

Viele dieser und anderer Projekte hätten ohne Drittmittel nicht realisiert werden können. Jedenfalls nicht in dieser Zeit und unter dem Dach der Universität. Den Versuch war es wert. Allen Widerständen zum Trotz. Wenn die Universität ein Ort bleiben will, an dem Geschichte für das Verständnis der Gegenwart und der Zukunft entschlüsselt und so gesehen kapitalisiert wird, kommt sie auf Dauer nicht an der privaten Mitfinanzierung solcher Vorhaben vorbei. Für die Universität ist das Interesse der Öffentlichkeit, auch privater Geldgeber, in unabhängige, qualitativ hochwertige historische Forschung ein Vertrauensvorschuss und ein Kompliment. Sie sollte diese Konjunktur nutzen. Denn die Geschichte wartet nicht.